Das Schwarzbrot der Liebe

Der Zeitgeist erwartet von gelingendem Leben Erfüllung und Ekstase – und lässt seine Jünger damit reihenweise scheitern. Gerade auch in der Ehe.

Nein, sagt der Zeitgeist

Der römische Dichter Ovid erzählt in den „Metamorphosen“ von Philemon und Baucis, jenem Ehepaar, das als einziges den müden Wanderern Zeus und Hermon Gastfreundschaft gewährte. Nach einem hohen Alter starben sie nicht, sie wurden von den Göttern in eine Eiche und eine Linde verwandelt, und so blieben sie, lebendig und verwandelt, beieinander. Gibt es sie noch, Philemon und Baucis, die Liebe und die Gemeinschaft mit vielen Jahren, in der zwei Menschen wie alte Bäume nebeneinander stehen? Nein, sagt eine Reihe von Soziologen und Psychologen. Diese Gemeinsamkeit, die nur der Tod scheidet, mag es gegeben haben, als die Lebenszeit sowieso kurz war, als das Leben der Menschen noch karg und ihre Wünsche bescheiden waren; als noch starke Traditionen die Verhältnisse regelten und man gezwungen war, beieinander zu bleiben.

Nein, sagt der Zeitgeist. Eine Liebe reicht nicht fürs Leben. Diese lebenslängliche Ehe ist ein Gefängnis. Ich fange an, an dieser Beziehungsanthropologie zu zweifeln, die eine Gebundenheit, die kein Gefängnis ist, nicht mehr denken kann. Und ich kenne einige Gesetze der Liebe, von denen will ich reden.

Erstens: Du sollst die Ekstase nicht vergötzen!

Es ist gefährlich, die Liebe und eine Beziehung allein an ihrer Ekstase zu messen. Der Zeitgeist befiehlt zwar: Sei jederzeit auf der Spitze deiner Gefühle! Du bist nur in deiner eigenen Unmittelbarkeit lebendig, darum verlasse den Ort, an dem du sie nicht mehr findest! So entsteht ein Unmittelbarkeitsdiktat, das die Langfristigkeit der Liebe verhindert.

Liebe hat ihren Ort nicht nur in der Ekstase. Ekstase ist übersetzbar in Gewöhnlichkeit, Unscheinbarkeit und Alltag. Auch wenn zwei zusammen spülen, ist es ein Liebesspiel – sozusagen ein Liebesspül. Auch wenn zwei sich abmühen, einander zu ertragen, ist es eine Lesart der Leidenschaft einer für die andere kocht, ist es eine Übersetzung des Hohen Lieds: Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen. Die Liebe muss es lernen, die einfachen Dinge zu achten; es gibt eine Ekstase, die nicht nur im erfüllten Augenblick besteht, sondern in der Köstlichkeit der langen Zeit und im Schwarzbrot des Alltags.

Zweitens: Du sollst dich Ganzheitszwängen nicht unterwerfen!

Es gibt ein Leiden, das durch überhöhte Erwartungen entsteht: dass die eigene Ehe vollkommen sei, die Partnerin einen vollkommen erfülle, dass ich im Beruf aufgehe, dass die Erziehung der Kinder vollkommen gelinge. So ist das Leben nicht!

Die meisten Lieben gelingen halb; man ist meistens nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb glücklicher Mensch. Und das ist viel! Schön, wenn wir gelegentlich in die Nähe der Ganzheit kommen. Aber das Leben ist endlich, nicht nur in dem Sinn, dass wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber: im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen. Die große Leidenschaft kann sich auch im halben Herzen verstecken.

Ich vermute, dass die Ganzheitszwänge zusammenhängen mit dem Schwinden des Glaubens an Gott. Die Suche nach der ganzen Liebe ist der Glaube der säkularen Gegenwart, „der Fundamentalismus der Moderne“, sagt der Soziologe Ulrich Beck. Wer an Gott glaubt, braucht nicht Gott zu sein und Gott zu spielen. Wo dieser Glaube zerbricht, da ist dem Menschen die nicht zu tragende Last der Verantwortung für die eigene Ganzheit auferlegt.

Drittens: Du sollst nicht knauserig in deiner Beziehung sein!

Es gibt Begriffe in der neuen Lebensformendebatte, die ich vom Geist der Kaufmannschaft geprägt finde. Die Worte „Verhandlungsmoral“ und „Selbsterfüllung“ zähle ich dazu. Da sitzen die kleinen Ehekerlchen und berechnen, was sie auszugeben bereit sind und was nicht. Vom ersten Kuss an kalkulieren sie den möglichen schmerzlosen Ausgang aus der Beziehung. Da haben sie notiert, wie oft wer schon die Küche geputzt, eingekauft und das Bad sauber gemacht hat. Zwar ist den Frauen nicht zu verdenken, wenn sie ihre Männer gelegentlich an den Putzeimer und in die Küche treiben. Aber die Berechnung als Grundlage einer Beziehung ist zerstörerisch. Dagegen: Wie schön ist die Großmut, die nicht aufzählt und die keine Angst hat, sich selber zu verlieren – immer vorausgesetzt, sie wird nicht einem Liebespartner zudiktiert, denn es gibt Tugenden, in denen man nur gemeinsam bewandert sein kann.

Viertens: Du sollst deine Unabhängigkeit nicht vergötzen!

Das Wort Abhängigkeit darf man in Zeiten eines rasenden Individualismus eigentlich nicht mehr in den Mund nehmen. Ich muss mein eigener Lebensmeister sein, mein eigener Kraftspender, Lehrer und Tröster, der Bäcker meiner eigenen Lebensbrote.

Es gibt zwei Lebensschönheiten, die eine: ich selber sein zu dürfen; die andere: nicht nur ich selber sein zu müssen, sondern von der Kraft, dem Trost und dem Reichtum der anderen zu leben. Es ist mehr Spiel im Leben und weniger Zwang, wenn man nicht der dauernde Meister seiner selbst, wenn man sich in der Gnade eines anderen tummeln kann. Es ist schön und lebenserleichternd, angewiesen zu sein. Wenn ich mir nur mich gönne und nicht mehr, dann werte ich zugleich das andere Leben und den anderen Reichtum ab.

Es ist eine schwere Kunst, bedürftig zu sein und sich trösten zu lassen. Viel Erwachsenheit gehört zu ihr, vielleicht auch viele Niederlagen, vielleicht auch große Wünsche, die einen ein einfaches und schönes Wort lehren: Ich brauche dich! In deinen Augen bin ich schön.

Fünftens: Du sollst die Liebe nicht zu deinem Privatding machen!

Indem Liebende sich als Liebende zeigen und Zeugen suchen, bekommen sie Gesicht.

Ich bringe ein politisches Beispiel aus dem Vietnamkrieg für die Kraft solcher Zeugenschaft. Bei den Aktionen der Friedensbewegung in den Vereinigten Staaten, etwa bei der Besetzung einer Waffenfabrik, gab es zwei Gruppen. Die einen drangen in die Fabrik ein und gefährdeten sich damit unmittelbar. Eine andere Gruppe blieb draußen und beobachtete die Vorgänge. Es ging einmal darum, mögliche polizeiliche Übergriffe zu notieren. Aber die Gruppe draußen hatte in der Spiritualität jener Friedensleute noch eine andere Bedeutung. Sie stärkte die sich gefährdende Gruppe, indem vor ihren Augen geschah, was geschah. Sie waren ihre Zeugen wie die Trauzeugen bei der Hochzeit.

In die Öffentlichkeit mit seinen Wünschen und Ängsten gehen, das ist die große Inszenierung der Hoffnung. Darum plädiere ich für die öffentliche Segnung und Trauung aller, die sich lieben. Natürlich leben wir in weniger konturierten Zeiten, in denen mit dem Experiment, der Erprobung, der langsameren Deutlichkeit einer Beziehung zu rechnen ist. Aber man muss zugleich davor warnen, dass man auch in der Undeutlichkeit und der reinen Privatheit ersticken kann.

Sechstens: Ihr sollt euch nicht in euch selbst erschöpfen!

Die katholische Ehelehre macht die Offenheit für Kinder sogar zur Bedingung für die Gültigkeit der Ehe. Man kann auf Dauer nur zusammenleben, wenn man mehr will als sich selber; wenn man mehr Lebensabsichten hat als die selbstgenügsame Zweisamkeit. Es brauchen nicht nur leibliche Kinder zu sein. Man kann Lebensphantasien und Optionen teilen, man kann Projekte und Arbeiten adoptieren und natürlich fremde Kinder.

Wenn Menschen, die sich lieben, keinen anderen Blick haben als den in die eigenen Augen, dann verkommen sie. Mit sich allein sind die Liebenden immer in schlechter Gesellschaft. Wir kennen die trostlose Komik einer Ehe, in der zwei sich immer ähnlicher werden, weil sie nur sich selber kennen. So ist der eine nicht mehr die Ergänzung des anderen, sondern seine Verdoppelung.

In der alten Dorfehe kannte das Paar nur wenige Menschen näher, es waren meistens Verwandte. Das ist anders geworden: Die Partner leben in vielfältigen Beziehungen, sie haben oft Lebenswelten, die sich nur zum Teil überschneiden. Man muss sich nicht mehr alles sein. Das ist eine Entlastung und eine Bereicherung der Ehe. Allerdings steht damit die alte Ausschließlichkeit auf dem Spiel, auch die sexuelle Ausschließlichkeit. Das heißt mehr Lebendigkeit, nicht unter allen Umständen, aber vielleicht. Es heißt sicher mehr Schmerzen, mehr Verwirrung und mehr Schutzlosigkeit. Man kann den Wunden nicht entgehen, wenn man leben will.

Fulbert Steffensky